Um zu sich vorzustellen wie innerstädtische Industriegebiete im Jahr 2071 – etwa einem halben Menschenleben – aussehen könnten hilft es eine gedankliche Zeitreise in das Jahr 1971 zu unternehmen. Aspekte wie die Arbeitsbedingungen, die Transportmittel, die verwendeten Maschinen, der Umgang mit Flächen und Rohstoffen, die Geruchs- und Lärmemissionen, die architektonische Qualität sowie der Umfang von verwendeten umweltbelastenden Werkstoffen seien hier stellvertretend genannt.
In vielen der genannten Bereiche wurden mit der Zeit positive Fortschritte erzielt. Der volkswirtschaftliche Produktionsfaktor Naturkapital (Boden) erfordert zur langfristigen Sicherung und Weiterentwicklung innerstädtischer Industriestandorte einen besonderen Handlungsbedarf. Grund und Boden sind ausverkauft und teilweise kontaminiert. Flächen für Expansionen fehlen. Energieträger und Rohstoffe werden knapper und teurer. Ihr Abbau und ihre Nutzung verursachen häufig negative Umweltfolgen. Standortfaktoren wie ein funktionales und dabei attraktives Umfeld gehören ebenfalls zum Naturkapital und spielen bereits heute bei der Gewinnung von Mitarbeiter*innen eine entscheidende Rolle.
Sicher ist, dass jeder technologische Fortschritt Städte und die in ihnen lebenden Gesellschaften umgeformt hat und dies auch wieder geschehen wird (vgl. Scheafer; Hosoya; Industrie.Stadt - Urbane Industrien im digitalen Zeitalter; 2021).
Die vergangene Industriekultur zu Grunde legend und dem aktuellen Fachdiskurs folgend zeichnen sich zwei mögliche Szenarien für innerstädtische Industriegebiete im Jahre 2071 ab. Vollautomatisierte Landschaften die durch die Abwesenheit menschlichen Handelns geprägt sind (vgl. K. Kobayashi; Botscape; 2020). Dies bedingt neue Beschäftigungsmodelle an anderen Orten der Städte. Die Industriekultur der letzten 50 Jahre zu Grunde legende unterstellt der Autor eine positive, humanistischere Zukunft.
Eine Zukunft in der Unternehmer*innen Ziele formulieren, die neben der monetären Gewinnmaximierung auch die Bewertung von Umweltfolgen berücksichtigen. „Der Aufbruch ins zweite Maschinenzeitalter muss nicht nur clever klug und geschmeidig seiner muss auch künftige Desaster erkennen und vermeiden.“ (R.D. Precht; Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens; 2020).
Hypothesen für innerstädtische Industriestandorte im Jahre 2071
Durch anhaltenden, aber bewussteren Konsum, vergangene Lieferengpässen bedingt durch globale Extremereignisse und fortwährend steigende Transportkosten hat die Relevanz innerstädtischer Industriestandorte und der dort ansässigen produzierenden Unternehmen zugenommen.
Innovationen im Bereich der Technologisierung, Automatisierung und Prozesseffizienz haben zu einer neuen Beliebtheit der Arbeitsplätze im industriellen Sektor geführt. Dabei kommt leichten, steuernden und überwachenden Tätigkeiten eine höhere Bedeutung zu. Dadurch ist der der Anteil an weiblichen und betagteren Fachkräften im industriellen Sektor gestiegen.
Abnehmer*innen und Endkonsumenten interessieren sich für die Herkunft ihrer Produkte. Innerstädtische Industriestandorte sind zur Destination versierter Städter geworden woraus sich ein großes Angebot von regelmäßig stattfindenden Werksführungen ergeben hat.
Die zugenommene Sichtbarkeit Innerstädtischer Industriegebiete hat zu einer erhöhten Freiraumpflege und stringenten Ahndung von Verstößen der Straßenverkehrsordnung durch die öffentliche Hand geführt.
Zu Gunsten neuer produktiver Betriebseinheiten die der Rücknahme-, Lagerung-, und Überarbeitung eigener Erzeugnisse werden die letzten Flächenreserven auf privaten Stellplätzen mobilisiert (vgl. K.M. Dietrich; Produktionsfaktor Stellplatz, Billbrooker; 2020).
Der neue Umgang mit den Produktnebenströmen, Endstoffen und gefertigten Produkten am Ende ihres Lebenszyklus hat zu Entwicklung neuer Logistikkonzepte geführt bei deren Entwicklung Kooperationen zwischen Speditionen und Recyclingunternehmen maßgeblich zu Innovationen beigetragen haben.
Dem Beispiel der Schweiz folgend und das Gemeinwohl sichernd sind neue politische Rahmenbedingungen für private Investitionen in Infrastruktur entstanden. Dies hat zu einer Aufwertung und neuen wirtschaftlichen Nutzung der Straßenräume, zeitweise ungenutzter Gleiskorridore sowie der Industriekanäle geführt.
Kleine Grünanlagen dienen so genannten Business Walks, Pavillons im Freien werden für vertraulichen sowie konzeptionellen Arbeitstreffen genutzt. Es gibt Möglichkeiten zum Betriebssport wie zum Beispiel öffentliche Trimm-dich-Pfade, die an den Wochenenden auch von nicht vor Ort arbeitenden Menschen genutzt werden.
Die enorme Diskrepanz zwischen modernen Lager- und Produktionsverfahren innerhalb der Unternehmen und ihrer überwiegenden architektonischen Außendarstellung hat sich auf Grund zunehmender Besucherzahlen und höherer Ansprüche der Beschäftigten an Ihren Arbeitsplatz und dessen Umfeld zu Gunsten von architektonisch ansprechenden Bauwerken gewandelt.
Der Wandel gewachsener innerstädtischer Industriestandorte wie Billbrook/Rotheburgsort in Hamburg wurde und wird weiterhin durch aktive und zunehmend verbundene Unternehmer*innen gestaltet. Institutionen wie der Billbrookkreis e.V. tragen durch ihre Kontinuität, Gemeinschaft, das Setzen von Zukunftsthemen und auch das Aufzeigen von Missständen maßgeblich zu einer positiven Stadt- und Standortentwicklung bei. Aus der engagierten Mitarbeit von Mitgliedsunternehmer*innen und den Vorständen des Billbrookkreis e.V. sowie der konsequenten Einforderung der Umsetzung gemeinsam formulierter Maßnahmen ist zwischen 2015 und 2030 ein Teil der hiesigen Infrastruktur modernisiert worden. Das Verständnis der Relevanz des Produktionsfaktors Umfeld hat zugenommen. Die kooperative Verbesserung des Umfelds durch Pionier*innen aus der privaten Wirtschaft und Pionier*innen der öffentlichen Hand hat dazu geführt, dass Billbrook/Rothenburgsort heute, im Jahr 2071 - ebenso wie vor 100 Jahren - eine hohe nationale sowie internationale Bedeutung als Industriestandort zukommt.